Orta See im Piemont, Autor: Selden Vestrit (bearbeitet)
Orta See im Piemont, Autor: Selden Vestrit (bearbeitet)

Der Region ergeht es wie ihrer Kapitale, der Ruf hinkt Bedeutung und Schönheit weit hinterher. Das nie wie die Toskana zum Traumland hochgejubelte Piemont ist zwar weniger volkreich als die benachbarte Lombardei, aber mit über 25.000 qkm knapp hinter Sizilien Italiens zweitgrößte Region – nur im Gegensatz zur größten Insel des Mittelmeeres eben ganz ohne maritimen Wasseranschluss. Die gleißenden Gipfel von Gran Paradiso, Mont Blanc, Matterhorn und Monte Rosa bilden den Rahmen hinter sanft gewellten Hügellinien, die übergehen in die große Stromebene, wo statt Meeren liebliche „Südseen“ locken. Wanderer durch die vielfältige Kulturlandschaft und Kletterer in zerklüfteten Bergtälern, Wein-Wallfahrer und Trüffel-Tifosi kennen die verborgenen Bodenschätze und wissen ihr piemontesisches Paradies sicher vor den Entstellungen des Massentourismus, der allüberall zerstört, was er zu suchen vorgibt. Originalität und Charakter haben in Binnenländern meist den besten Bestand. Das Piemont ist Paradebeispiel dafür, und dessen Trumpf ist Turin.

Mole Antonelliana, Turin, Italien, Autor: Felipecadonacolombo (bearbeitet)

Ihre Wehmut konnten die Turiner in reichlich Wermut ertränken, denn mit Cinzano, Martini und Carpano beherrschen die Piemontesen schon seit über 150 Jahren den Weltmarkt. Die Industrielle Revolution und der Triumph der Technik retteten die untergehende Stadt ins 20. Jahrhundert. FIAT, die „italienische Fabrik für Automobile in Turin“, ist seit 1899 nur das bekannteste Flaggschiff unter piemontesischem Steuerruder. Duce Mussolini hinterließ hier wie überall architektonische Gewaltakte, doch im regelmäßigen Gefüge der „modernen“ Altstadt fällt die faschistische Monotonie nur wenig störend ins Auge. Allein in Turin über eine halbe Million „Terroni“, entwurzelte und ungeliebte Gastarbeiter aus dem unterentwickelten Süden des eigenen Landes, kurbelten nach dem Krieg (Nord) Italiens Wirtschaftswunder kräftig an, und heute trägt manches Quartier eher neapolitanischen Charakter. Das „Rote Turin“ wurde zur Hochburg der Arbeiterbewegung, und 1975 regierte erstmals ein Kommunist als Bürgermeister im „Salon von Savoyen“. „Weltverbessernde“ Brigaden, linke wie rechte, die sich wie mordende Briganten gebärdeten, bescherten Turin zeitweise die traurige Berühmtheit einer „Kapitale des Terrorismus“. Die Negativschlagzeilen sollen aber nicht verdecken, dass Turin nach Mailand Italiens zweitgrößtes Industrie- und Kommerzzentrum ist und mit 1,2 Millionen einwohnermäßig an vierter Stelle nach Rom, Milano und Neapel rangiert. Hier in der prosperienden Po-Polis rollt die Produktion und werden Zukunftsperspektiven entworfen, nicht Steuergelder und Peterspfennige verwaltet oder lediglich eine gloriose Vergangenheit ausgestellt.

Charme und Charisma als „verlassenes Versailles“ verlor Turin indes bis heute nicht. Ganz unmittelbar spricht das aristokratische Ambiente hochgestimmte Seelen an, zumal wenn bei klarer Sicht die majestätische Alpenkette den Horizont wie eine schneeweiße Krone bekränzt. 1888, im Deutschen Reich das „Dreikaiserjahr“, kam der ruhelose, das deutschtümelnde Vaterland fliehende Friedrich Nietzsche per Eisenbahn und schwärmte voll Enthusiasmus: „Aber Turin! Das ist wirklich die Stadt, die ich jetzt brauchen kann!... Aber was für eine würdige und ernste Stadt! Gar nicht Großstadt, gar nicht modern, wie ich gefürchtet hatte: sondern eine Residenz des 17. Jahrhunderts, welche nur einen kommandierenden Geschmack in allem hatte, den Hof und die Noblesse. Es ist die aristokratische Ruhe in allem festgehalten... Nein, was für ernste und feierliche Plätze! Und der Palaststil ohne Prätention...

Die schönsten Cafés, die ich sah... Diese Arkaden haben bei einem solchen Wechselklima etwas Notwendiges: nur sind sie großräumig, sie drücken nicht... Man kann halbe Stunden in einem Atem durch hohe Bogengänge gehen. Hier ist alles frei und weit geraten, zumal die Plätze, so dass man mitten in der Stadt ein stolzes Gefühl von Freiheit hat. Hierher habe ich mein Huckepack von Sorgen und Philosophie geschleppt...“

Der himmelhochjauchzenden Begeisterung seiner letzten Schaffensphase folgte sogleich der zu-Tode-betrübte Absturz in völlige geistige Umnachtung bis zum Lebensende in Weimar im Jahre 1900. Auf der Piazza Carlo Alberto umarmt der „Antichrist“ voller empörtem Mitleid einen vom Kutscher gepeitschten Droschkengaul: „Ecce homo“ – dabei war es doch nur eine geschundene Kreatur! Beide Schicksalsschriften entstanden in dieser Periode und zeigen einen Menschen voll innerer Zerrissenheit, der weniger mit Gott als mit sich, der Kirche und seiner Zeit hadert. Der dichtende Doktor Gottfried Benn resümierte das triste Ende des „Philosophen mit dem Hammer“ in einem prosaischen Poem mit Titel „Turin“: „Ich laufe auf zerrissenen Sohlen“, schrieb dieses große Weltgenie in seinem letzten Brief –, dann holen sie ihn nach Jena -; Psychiatrie.

Im selben Jahr 1888 wurde der Maler Giorgio de Chirico geboren, dessen surrealistische „pittura metafisica“ in vielen seiner Werke Bezug nimmt auf „Nietzsche in Turin“. Der Erdenker des kommenden „Übermenschen“-Messias und die so vornehm-vernünftige Stadt befruchteten sehr den besonders in Italien favorisierten Futurismo, der sich in der Folge jedoch zwischen Faschismus und Esoterik aufrieb und fröhliche Urstände nur noch feiert in fashionablem Design alla alta moda

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