Unter den großartigen Kapitalen Italiens ist Turin eine den Deutschen weniger bekannte – wohl weil die Region Piemont, wie ihr Name schon sagt, eben „zu Füßen der Berge“, nicht aber an den Gestaden des Mittelmeeres liegt. Wer außer den Küsten auch die 2500 Jahre alte und unverändert junge, urbane Kultur jenseits der Alpen schätzt, der weiß in Turin einen Höhepunkt der Po-Ebene, dessen bewegte Geschichte von den Bauten der Antike bis zum Automobilbau reicht.
Torino – das ist eine mediterrane Melange aus barockem Wien und klassizistischem Berlin auf dem Schachbrett-Grundriss eines römischen Castrum. Die Einwohnerzahl entspricht mit 1,2 Millionen der von München ebenso wie die Lage in der Ebene mit einem Kranz von Bergen am nahen Horizont. Liberal wie an der Isar (ohne „freie Körper“, aber mit viel Kultur) ist das Flair am Po. Nostalgische Kaffeehäuser blieben mehr erhalten als an der Donau. Das vornehm strenge Stadtbild erinnert an das alte Spree-Athen. Und die Piemontesen gelten als italienische Preußen.
Vom Königreich Sardinien-Piemont ging das „Risorgimento“ aus, die Wiederaufrichtung eines Nationalstaates, und von 1861 bis 65 war Turin Hauptstadt des gerade geeinten Italien. Das völlige Ausufern moderner Megalopolen blieb der ehemaligen Residenzstadt später ebenso erspart wie eine touristische Dauerinvasion, obwohl die Architektur zum Allerfeinsten Europas gehört und die Dolce Vita dem Savoir vivre des Nachbarn Frankreich in nichts nachsteht.
Seit Menschengedenken bestimmt die Po-Ebene Geschichte und Wirtschaft von ganz Oberitalien. „Libera Padania“, „freies Land am Po“, ist das Schlagwort all derer, die den reichen Norden des Stiefels gern vom armen Süden, dem Mezzogiorno, abkoppeln würden, weil dort unten nur die Mafia und das ewig korrupte Rom verschleuderten, was die Industrien am langen Strom fleißig erwirtschaften. Freilich ist auch an Italiens größtem Fluss nicht alles sauber und rein. Kläranlagen haben immer noch Seltenheitswert, so dass sich auf fast 700 km Länge die kristallklaren Wasser von Alpen und Apennin in eine Brühe verwandeln, die sich trübe in die Adria und bei Hochwasser verheerend übers brettebene Land ergießt. So halten fast alle großen Städte respektvoll Abstand vom lebenswichtigen Wasserspender und unberechenbaren Sorgenbringer.
Im schönen Turin aber spielt ein noch junger Po eine wichtige Rolle im Weichbild. Den besten Blick über Stadt, Land, Fluss und Alpenkette vom Monviso bis zum Monte Rosa genießt man vom 670 Meter hohen Superga-Hügel aus. Die grandiose Basilica di Superga, ein Prunkbau à la Pantheon von Filippo Juvara und barockes Wahrzeichen hoch über der Stadt, entstand zum Dank nach dem Sieg über die Truppen von Ludwig XIV. und wurde Grablege der Savoyer. Quicklebendig wird das Bergplateau gegen Abend als Balzplatz und Treffpunkt der Turiner Jugend. Zweiter An- und Aussichtspunkt sowie modernes Wahrzeichen inmitten der Stadt ist die Mole Antonelliana, zur Jahrhundertwende mit fast 168 Metern als höchstes Mauerwerk Europas errichtet, obwohl ursprünglich nur eine Synagoge geplant gewesen war. Der kolossale Wolkenkratzer sollte neues Selbstbewusstsein demonstrieren, nachdem Turin vom Zentrum der Politik in die geographische Peripherie gerückt worden war. Beide himmelstürmenden Bauten forderten das Schicksal heraus. 1949 stürzte an der Kuppel der Superga ein Flugzeug mit kompletter Fußballelf ab, und 1953 brach ein Sturm dem Babelturm die Spitze, die in Metall nachgebildet wurde.
Auch Kriege suchten die in der Ebene kaum zu schützende Kommune heim, die vom letzten weitestgehend verschont wurde. Hannibal aber blieb in Turin nicht nur wie in Roma ante portas, sondern machte die keltisch-ligurische Gründung dem Erdboden gleich. Um die Zeitenwende herum begründete Kaiser Augustus am strategisch günstigen Po-Übergang erneut eine prächtige Römerstadt namens Colonia Augusta Taurinorum. Ein starker Stier, il Toro, tänzelt im Stadtwappen, obwohl der italienische Name Torino eigentlich „Stierlein“ heißt.
Die Porta Palatina bezeugt als mächtiges Stadttor wie die Trierer Porta Nigra das antike Erbe. Mit der Völkerwanderung kamen Goten, Langobarden, Heruler und Franken zur Landnahme ins bröckelnde Imperium Romanum. Die fränkische Grafschaft fiel im 11. Jahrhundert an das Haus Savoyen, war aber im Mittelalter zeitweise freier Stadtstaat. Immer wieder versuchten die französischen Könige erfolglos Fuß am Berge zu fassen, bis sie zuletzt Prinz Eugen verjagte, der als edler Ritter nicht nur Türken schreckte. Seit 1720 war Turin Hauptstadt des Königreichs Sardinien-Piemont. Der Geist der Aufklärung ließ nun auf antikem Schachbrettgrundriss eine barocke Musterstadt entstehen. Beispielhaft vereint die Bauepochen der Palazzo Madama im Herzen der Stadt inmitten der riesigen Piazza Castello. Zwei Türme des Komplexes entstammen noch der römischen Porta Decumana, der Mitteltrakt war gräfliche Burg, und die festliche Fassade und dahinter ein Prunktreppenhaus erstrahlen im glänzendsten Barock Juvaras.
Italiens schönstes Filmmuseum steht in Turin (links). Was Traum und was Wirklichkeit ist, lässt sich dort manchmal kaum unterscheiden. Dass sich Italiens schönstes Filmmuseum ausgerechnet in Turin befindet, ist kein Zufall. Die piemontesische Stadt war nicht nur die erste Hauptstadt, sondern auch die erste Filmmetropole Italiens, lange bevor in Rom der Mythos Cinecittà entstand.