Wirkt der Prunkstil des Absolutismus anderswo oft bloß pompös und repräsentativ klotzend, so ließen Guarino Guarini, Filippo Juvara und Bernardo Vittone im königlichen Turin die originellsten und phantastischsten Stilblüten des Spätbarock sprießen – wahrhaft würdig ihrer ungerechterweise ungleich berühmteren Vorgänger Bernini und Borromini im päpstlichen Rom, das der Provinz allein mit Glanz und Gloria seines Namens immer die Schau stahl und Turin später auch um Ruhm und Reichtum der Hauptstadtrolle betrog.
Das Schloss von Stupinigi
Der Turiner Barock ist zwar mit viel Stuck und bunter Malerei auch eine rein theatralische Kulissenarchitektur, aber deren filigrane Geometrie ist so genialisch ausgetüftelt und mathematisch komplex, konvex und konkav, dass vor den Augen ein wahres Vexierspiel ineinander verschlungener Formen und wechselnder Lichteffekte abläuft. Klare Logik schafft so ein metaphysisches Raumerlebnis, das ins Rokoko überleitet und seinesgleichen sucht. Aber alle Künste kommen nicht an gegen das „Goethe-Caorle-Komplott“: Wo keine sandige Küste und keine anerkannte bzw. bekannte Kultur, da kein deutscher Sonnenanbeter mit Bildungsanspruch.
Das Turiner Grabtuch
Eine Trophäe blieb aber am Ort im Renaissance-Dom, zusammengerollt im Vitrinenschrein: das weltberühmte „Turiner Grabtuch“, die faszinierendste aller Reliquien der Christenheit, die selbst erklärten Atheisten zu denken und Naturwissenschaftlern Rätsel aufgibt. Denn der Ganzkörperabdruck eines Gekreuzigten ist aller Wahrscheinlichkeit nach authentisches Abbild von Jesus Christus und wäre sogar als mittelalterliche Fälschung ein reines Wunder, denn das Zustandekommen des Spiegelbild-Negativs ist bis heute unerklärt. Die Kapelle der Santa Sindone mit der kurios pagodenhaft gezimmerten Kuppel Guarinis, die das Reliquiar barg, wurde leider im April 1997 Opfer eines verheerenden Brandes. Das kostbare Tuch in seinem Panzerglassarg, schon vor Jahrhunderten beinahe ein Raub der Flammen, brachte ein Feuerwehrmann mit Vorschlaghammer in Sicherheit. Das fromme Piemont, Heimat auch unzähliger Bergheiligtümer, atmete auf. Das leibhaftige Leichentuch des Herrn im Feuer verloren kurz vor der Jahrtausendwende – das wäre kein gutes Omen gewesen.
Denn die so rationalen Piemontesen, die Erfinder von Autos und Computern, gelten auch als äußerst abergläubisch. Ansonsten ist Pragmatismus die oberste Tugend der „Preußen Italiens“. Am grünen Tisch und über blutrote Schlachtfelder kreierte Graf Cavour wie Kanzler Bismarck aus einem „geographischen Begriff“ eine europäische Nation, auch wenn sich Sizilianer mit Trentinern nicht verwandter fühlen als Friesen mit Bajuwaren. Weil der Turiner Realpolitiker die Waffenhilfe Napoleons III. (der I. hatte die Savoyer nach Sardinien verjagt) gegen den in Oberitalien begüterten, österreichischen Kaiser brauchte, überließ er Frankreich das transalpine Savoyen, das Stammland seines Fürsten Viktor Emanuel II., der dafür 1861 vom König in Piemont zum König von Italien gekrönt wurde.
Der Zweck heiligte einmal mehr die Mittel. Turin gewann die gewagte Partie und setzte sich dennoch selbst schachmatt: Rom machte das Rennen. Das legendäre „caput mundi“, das Haupt der Welt, war eine Messe wert. Turin, die italienische Geburtsstadt des neuzeitlichen Zentralstaates, wurde zum Provinztheater degradiert.
Im fulminanten Intermezzo als Kapitale des neu geeinten Italien erlebte Turin bis 1865 einen beispiellosen Bauboom, dessen imperialer Historismus sich völlig nahtlos ins so geordnet gewachsene Centro storico einpaßt. Eine „echt italienische“ Altstadt in romantisch-mittelalterlicher Verwinkelei gibt es nicht im strengen Raster 2000-jähriger urbaner Symmetrie. Turin wäre eine Residenz im reinsten Sinne des Rationalismus geworden. Nach dem Abzug der Royals, der Regierung und der Administration erst nach Florenz und dann nach Rom drohte ein – im wahrsten Sinne des Wortes – halb entvölkertes Turin endgültig in Vergessenheit zu geraten wie Bonn nach dem Berlin-Exodus.